Vertrauen oder Vertraulichkeit? Ein Plädoyer für Transparenz
In Zeiten der gesellschaftlichen Distanz – ob nun ausgelöst durch das wissenschaftlich empfohlene und staatlich verordnete Social Distancing oder durch andere Symptome unseres derzeitigen Zusammenlebens wie Social Media, Individualisierung, narzisstische Bedürfnisbefriedigung – wird eine Frage wieder zentral, die auch schon vor der Krise an Relevanz gewonnen hat: Wie vertraulich und individuell können wir noch miteinander umgehen, ohne dass es gleich „an die große Glocke gehängt wird“ – egal, ob über die sozialen Medien oder über Denunzierung in jeder Form.
„Ich blogge, also bin ich.“
Und überhaupt: Sind die sozialen Medien wirklich sozial? Nutzen wir sie angemessen? Zur Meinungsverbreitung sind sie zweifellos geeignet. Zur Meinungsbildung auch? Sind Sie den Menschen und dem menschlichen Miteinander wirklich noch zugewandt? Sind sie nicht a-sozial im Sinne der Abwendung vom im Wortsinn DIREKTEN Miteinander? Wieviel Flucht vor dem direkten persönlichen Disput oder auch nur Dialog und Austausch steckt in der Hinwendung zu sozialen Medien als Instanz der gefühlten Vernunft in allen Lebenslagen? Wieviel Narzissmus steckt im Bloggen?
Vertraulichkeit behindert Transparenz und soziale Verantwortung.
Im engeren Sinne steht die Frage im Raum, inwieweit traditionelle und rituelle Vertraulichkeitsvereinbarungen den offenen Dialog und den ergebnisoffenen Austausch und die prozesshafte Entwicklung von Lösungen für das ganze System nicht sogar behindern. Man denke an das Beichtritual und an die fatalen Auswirkungen von Schweigegeboten oder Gelübden. Alles bleibt im Verborgenen und das Verborgene befördert Macht und Angst.
Insofern steht doch gerade im Moment die ÖFFNUNG an, die Schaffung von Transparenz – auch in unklaren Gemengelagen. Nur Transparenz – natürlich immer im Kontext des Schutzes der Würde des Individuums und seiner Persönlichkeitsrechte – kann Entwicklung möglich machen, an der Alle teilhaben können. Und in der Alle auch Verantwortung zu übernehmen haben – für den gesamten Prozess, für die Gemeinschaft, für die Nächsten. Und auch für sich selbst.
Soziale Medien als Ersatz für offenen und emphatischen Austausch?
Wie vielen Menschen ersetzt das Befüttern der sozialen Medien mit ungeklärten persönlichen Problemstellungen das innere Wachstum? Wie viel an sozialer Verantwortung laden Menschen an die sozialen Medien ab, ohne Verantwortung für das eigenen Handeln? Vertraulichkeit oder Anonymität zum Schutz der eigenen Interessen und zum Schutz der eigenen Unzulänglichkeit dienen niemandem außer sich selbst und dem eigenen Narzissmus.
Vertrauen in die Kraft des gemeinschaftlich getragenen Entwicklungsprozesses hingegen sorgt für Entwicklung und Fortschritt auf unterschiedlichen Ebenen.
Transparenz heißt Akzeptanz und schafft Toleranz.
Transparenz schafft Entwicklung und braucht vorauseilendes Vertrauen und Zuversicht. Vertraulichkeit und Anonymisierung stärken den Individualismus, nicht die Persönlichkeit. Lediglich zur Regulierung der eigenen Bedürfnisse sowie Affekte und zur „hinterrücks organisierten“ Selbstrechtfertigung eigener Positionen genutzte soziale Medien taugen eher als Nährboden. Weitere Individualisierung und Rückzug aus der gesellschaftlichen Verantwortung sind die Folge. Soziale Entwicklung ist damit nicht gegeben.
Entscheidend ist vielmehr, die Kraft der Intuition wieder zu trainieren und sie als Kompass für das eigenen Handeln zu nutzen. Dann brauche ich keine permanente Absicherung und Bestätigung mehr durch meine Follower.
Soziale Entwicklung, Veränderung und persönliches Wachsen gelingen nur in Transparenz. Ohne Transparenz über die Interessens- und Gefühlslage des Gegenübers bleibe ich stehen.