Krisenmanagement – Balance zwischen Entschlossenheit und Empathie
In Zeiten einer Krise herrscht ein anderer Modus. Teilweise scheint uns dieser Modus auch zu beherrschen und über uns zu herrschen – und das in mehrerlei Hinsicht. Wir erleben gerade und wohl auch für die nächste Zeit, wie die Corona-Pandemie in ihrer Folge uns alle massiv in unseren bisherigen als normal empfundenen Lebens- und Arbeitsgewohnheiten einschränkt. Dabei müssen wir uns ständig zwischen zweierlei inneren Zuständen ausbalancieren, die uns latent in Stress halten: „Lasst uns endlich wieder raus!“ vs. „Lass uns nichts riskieren!“
„Lasst uns endlich wieder raus!“
Wir alle haben schon lange Zettel geschrieben mit Wünschen für die Zeit und für „das Leben danach“. Aber wird es ein „Danach“ geben? Wohl eher ein „Damit“. Wir werden in den unterschiedlichsten Ebenen lernen (müssen), mit der veränderten Situation und dem zwangsläufig erworbenen neuen Wissen umzugehen und es in unser Leben zu integrieren. Als feste Größe. Wir werden wieder lernen müssen, unsere inneren Triebe gegeneinander auszubalancieren. „Selbstgesteuert“. Und dennoch fremdbestimmt.
Natürlich wollen wir wieder „raus“, uns frei bewegen, in sommerlicher Stimmung uns mit Freunden im Restaurant treffen und die Zeit einfach Zeit sein lassen. Das Leben genießen. Wir wollen unserem Bewegungsdrang nicht qua Verordnung nachgehen können, sondern so „wie es uns beliebt“.
Wir würden am liebsten mal so richtig „draufhauen“, zupacken, „Ansagen machen“, wie es manche Regierenden und manches Mitglied einer Unternehmensleitung gerade gern pflegen und damit Entschlossenheit demonstrieren. Aber ist das wirklich die kühne Entschlossenheit?
Können wir im Moment dieser Krise Entschlossenheit wirklich gerade gebrauchen? Nutzt sie uns? Oder nutzt sie nur dem Entschlossenen? Steckt hinter der gelebten Entschlossenheit nicht etwas ganz anderes?
„In der Krise zeigt sich der wahre Charakter.“
In der Krise bedeutet dieser Satz dann auch, dass viele Menschen dazu neigen, sich so zu zeigen, wie sie wirklich sind. „Ungehemmt“. Nicht mehr der Vernunft gehorchend und nicht mehr resistent gegen inneren Stress. Man überlässt sich seinen inneren Motiven und kann endlich einmal aus freien Stücken seinen wahren inneren Reflexen und Neigungen nachgehen und muss sich nicht mehr irgendwelchen inneren oder auferlegten Zwängen ausliefern. Man lebt einfach sein Selbst aus.
„Das muss jetzt so sein! Wir müssen doch diese Krise schnell bewältigen!“
Wie viel SELBST steckt in aktuellen Management- oder Regierungsentscheidungen? Wieviel Ego schlägt gerade durch, wo die reine Vernunft gefordert ist? Und wieviel narzisstische Kränkung drängt gerade in Krisen ans Licht? Un-gehemmt. Wo bleibt dann die reine Vernunft, die Ratio?
Wonach definiert sich die reine Vernunft? Nach dem Gemeinwohl.
Vernünftige und dem Gemeinwohl dienende Entscheidungen definieren sich aus der sicheren Balance zwischen gesundem Menschenverstand und eigenem „Vortrieb“. Wenn sich wie derzeit verstärkt wahrnehmbar die kritischen Stimmen gegenüber Regierungs- und auch Managemententscheidungen erheben, scheint der gesunde Menschenverstand auf Kollisionskurs mit dem Eigensinn zu gehen. Man kann nicht mehr und man will nicht mehr den Entscheidungen der Obrigen folgen und setzt seinen eigenen gesunden Menschenverstand entgegen. Aber wer HAT den gesunden Menschenverstand in dieser schwierigen Situation? Wer hat die Macht und wer hat die Weitsicht, alle relevanten Aspekte der aktuellen und wohl in Teilen auch dauerhaft in unser Leben einfließende Krise zu bündeln und zu einem strategischen Urteil zusammenzuführen. Kann ein einzelner Mensch überhaupt diese Weitsicht entwickeln, ohne sofort in Ungnade zu fallen und der Selbstüberhöhung bezichtigt zu werden? Wie schnell geraten auch sogenannte vernunftgesteuerte Menschen in Gefahr, diskreditiert zu werden, nur weil sie eine Entscheidung treffen oder einer Einschätzung folgen. Oder weil sie genau KEINE Entscheidung treffen, weil die Zeit noch nicht reif ist für Entscheidungen.
„Lasst uns nichts riskieren!“ Toleranz oder Dynamik – Was zählt?
Der Zustand der auferlegten Toleranz nagt extrem und zunehmend an unserer Ungeduld. Aber es funktioniert trotzdem.
Wir wollen raus und wir wollen unsere Affekte ausleben. Wir können nicht mehr lange einfach nur drinbleiben und innehalten, wir wollen wieder raus ins Leben. Wir haben mangels geöffneter Restaurants schon alle Kochbücher durchgekocht, die Wohnung ist aufgeräumt, renoviert, strukturiert. Die Buchläden pulsieren gerade vergleichsweise und wir wirken auf einmal viel belesener. Unsere Mail-Accounts und die ganzen eigenen Dateien sind sortiert und wir leben, kommunizieren, konsumieren, arbeiten und lernen inzwischen ungeahnt und in zunehmender Perfektion digital. Mittlerweile sind zunehmend nicht mehr wir Individuen die Schwachstelle der Digitalisierung, sondern die Cloud- und Netzbetreiber bringen uns an ihre Grenzen.
Wir finden Gefallen am Fremden.
Wir haben in kurzer Zeit Dinge beherrschen gelernt, vor denen wir uns als Individuum wie als Gesellschaft lange Zeit gesträubt haben.
Wir können uns nach einer Zeit der Eingewöhnung auf einmal in wunderbarer Toleranz in öffentlichen Parks bewegen, wir schauen fremden Menschen auf einmal mit warmem und achtsamem Blick in die Augen und wir helfen einander. Wir kommunizieren mit einem Lächeln, wo uns sonst häufig grimmige Fratzen aus dem Weg drücken. Wir gehen auf einmal so entschleunigt durch Straßen und Parks, dass man meinen könnte, wir alle wären erfolgreich durch einen Schnellkurs zur Achtsamkeit gegangen. Dalai Lama würde sich begeistert und gerührt zeigen, wenn er in Berlin durch den Schlosspark Charlottenburg wandeln würde. Er hätte nichts mehr zu tun. Außer zu lächeln. Wir sind alles seine Jünger geworden.
Wir können uns dem großen Ganzen „unterordnen“, wenn wir Einsicht gewinnen und wenn wir die Beweggründe für Entscheidungen mental und auch emotional nachvollziehen können. Dann sind wir „mit dem Herzen dabei“.
Um etwas mitzutragen, müssen wir uns gut vertreten fühlen können.
Wenn uns die Decke auf den Kopf fällt, werden wir erst unruhig, dann ungehalten, dann aggressiv – und dann folgt der Kontrollverlust, mit schmerzhaften Folgen. Wenn aber mit mahnenden wie auch einfühlsamen Worten an unsere Vernunft und an unsere Einsicht appelliert wird, und wenn dabei auch im besten Wortsinn warmherziges Verständnis für unsere Belange, für unsere Bedürfnisse und für unsere Situation entgegengebracht wird, dann gehen wir mit! Dann folgen wir, dann ordnen wir uns nicht unter, sondern wir ordnen uns zu und wir ordnen uns ein.
Wir kommunizieren dann voller Wärme und im Wortsinn einander zu-geneigt über den Zaun der Abstandsregelung hinweg. Mit einem Glas Wein in der Hand oder einfach mit einem Lächeln in den Augen.
Der Zaun trennt uns nicht mehr, er verbindet uns tief.
Ohne Empathie entsteht keine Einsicht, und ohne Einsicht verpufft die kühnste Entschlossenheit. Es geht nur Beides. Halten wir uns daran fest. Dann gewinnen wir viel Halt und Zusammenhalt. Auch über die Krise und den Zaun hinweg. So wird auch diese Krise durch unser aller Mitwirken beherrschbar, ohne dass wir das Gefühl des Beherrschtwerdens entwickeln müssen. Und ohne die Beherrschung wieder verlieren zu müssen.
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Empathie zählt in dieser Zeit ebenso viel wie Entschlossenheit. Und Empathie erfordert ebenso viel Entschlossenheit, wie Entschlossenheit auch Empathie erfordert. Damit die richtigen Entscheidungen getroffen werden.